Ein echtes Vorbild – entdeckt im Verborgenen


Was sind Vorbilder? Wie wird jemand zum Vorbild? Sind es erfolgreiche Sportler, die von internationalen Siegertreppchen lachen? Sind es Künstler, die begehrte Werke für andere Ohren oder Augen schaffen? Sind es Menschen, die sich für andere einsetzen? Vielleicht trifft das eine oder andere zu. Ich habe jedoch kürzlich einen Menschen erlebt, der für mich zum Vorbild geworden ist, obwohl keine der genannten Kriterien auf ihn zutreffen.

Ich kam kürzlich von meiner morgendlichen Loipenrunde zurück und sah schon das Auto der Gebäudereiningungsfirma vor der Tür stehen, die bei uns die Reinigung des Treppenhauses übernommen hat. Vielleicht ist es wieder die junge Frau, der ich ein paar Wochen vorher schon mal begegnet war, dachte ich. Dann wieder nett grüßen, denn schließlich tun sie ja gute Arbeit für uns, die zwar bezahlt, aber sonst nicht weiter honoriert wird.

Aber nein – große Überraschung – es war ein Mann im besten Alter, der den Putzlappen führte. Ein Mann, der putzt? Die Klischees schossen mir durch den Kopf. Putzfrau, sagt man doch, aber nicht Putzmann. Und welcher Mann putzt privat im Haushalt schon freiwillig? So alt, dass er keinen anderen Job mehr kriegen würde, ist er auch nicht. Hmm, komisch.

Während ich noch versuchte, meine Gedanken in den Griff zu kriegen, grüßte er ganz freundlich. Und besorgt um mein Wohlergehen warnte er mich auch gleich vor der Rutschgefahr durch den feuchten Boden. Nett, dachte ich mir. Im Gegenzug war ich besorgt, ob ich nicht vielleicht noch Schneereste an meinen Schuhen ins Treppenhaus getragen hatte und ihm damit unnötig mehr Arbeit bereitet hätte.

Während ich – immer noch in meinen Gedanken versunken – meine Schuhe vor der Wohnungstür auszog, hörte ich den „Putzmann“ vor sich hin singen. Das beeindruckte mich. „Ihnen macht Putzen offenbar Spaß,“ stellte ich – sicher ein bisschen unbeholfen – fest. „Ja klar!“, entgegnete er fröhlich. Das war ernst gemeint, daran bestand kein Zweifel. „Neja, beim Putzen sieht man wenigstens den Fortschritt,“ bemühte ich mich um eine positive Erklärung, „bis wieder jemand mit schmutzigen Schuhen daherkommt.“

putzen„Das ist normal,“ erwiderte er, „das kann bei diesen Böden gar nicht anders sein.“ „Neja, das sichert zumindest Ihren Job,“ kam mir dann nur noch aus dem Mund. Dann musste ich schnell in die Wohnung, um aus den nassen Sportklamotten raus- und anschließend schnellstens an meinen Arbeitsplatz zu kommen.

Als ich danach wieder ins Treppenhaus trat, war er in einem anderen Stockwerk zugange – und noch immer am Singen. Es war also wirklich echt und gehörte für ihn zum Arbeiten. Er tat es also weder als Art Maske vor mir, noch liess er sich durch meine Anwesenheit davon abbringen.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was wohl seine Geschichte sein könnte und warum er überhaupt putzt, und warum er mit Freude putzt und dabei singt. Vielleicht ist er ja Sänger oder Gesangslehrer, der sich morgens ein Zubrot verdient und die Einsamkeit in den Treppenhäusern sinnvoll zum Training nutzt? Bei allen Gedanken musste ich aber ehrlicherweise feststellen, dass sie auch wieder auf Klischees beruhen:

  • Putzen ist eine minderwertige Arbeit.
  • Männer machen Karriere, und minderwertige Arbeit nur dann, wenn sie gar nichts anderes können.
  • Minderwertige Arbeiten werden schlecht bezahlt.
  • Minderwertige Arbeiten können sie keinen Spaß machen.

Stop, habe ich mir innerlich zugerufen. Warum dieser Mann putzt, ist doch völlig egal. Er tut es, und er tut es perfekt: Denn er tut es mit Freude. Er macht sich die Arbeit zum Vergnügen. Er verschwendet keine Energie damit, sich zu ärgern, dass er putzen muss anstelle einen Job mit hohem Ansehen und Gehalt zu haben. Stattdessen hat er auch nach Feierabend noch Energie für alle möglichen Dinge, die er vielleicht noch tut.

Dieser Mann ist für mich ein echtes Vorbild. Ich denke immer wieder an ihn und halte mir vor Augen, dass

  • Rollenklischees und vorgefertigte Meinungen hinterfragt gehören
  • Arbeit Spaß machen darf
  • es jeder selber in der Hand hat, sich die Arbeit angenehm zu machen

Sollte ich ihn mal wieder treffen, würde ich ihm gerne meine Hochachtung ausdrücken – was mir bei der ersten Begegnung sicher nicht wirklich gelungen ist.