Alphabet: Erwin Wagenhofers Film über Bildung, Wirtschaft und Glück

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Im Oktober ist Erwin Wagenhofers Film „alphabet“ in die Kinos bekommen. Im Untertitel „Angst oder Liebe“ stecken bereits die zwei Gegenpole, die im Bildungssystem und in der Wirtschaft den Unterschied machen. Alphabet ist kein unterhaltsamer Film für einen lockeren Kinoabend. Er rüttelt auf, regt zum Nachdenken an, wirkt nach und kann im besten Fall Verhaltensänderungen anstoßen. Wer gehört zur Zielgruppe? Eigentlich jeder, denn Bildung, Wirtschaft und Glück sind Themen, die jeden angehen.

Der Film beginnt mit der These von Sir Ken Robinson, dass die enorm wichtige Vorstellungskraft in den Kindern systematisch zerstört wird, was aber zumindest nicht absichtlich passiert, sondern weil gewisse Annahmen für wahr gehalten werden.

Anschließend nimmt Autor Erwin Wagenhofer die Zuseher mit nach China, das mit seinen bei PISA höchst erfolgreichen Schülern als Vorbild gilt. Blickt man jedoch in das chinesische Schulsystem, zeigt sich ein erschreckendes Bild. Die Einführung der Marktwirtschaft hat China gleichzeitig auch die Konkurrenz gebracht. Die Eltern meinen, dass Prüfungsdruck Leistung schafft, handeln damit aber gegen die Natur der Kinder. Prüfungen sind in China inzwischen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, was durch die Tatsache unterstrichen wird, dass viele Nachhilfefirmen börsennotiert sind.

Für die Kinder sind allerdings Veranstaltungen wie die Mathe-Olympiade ein Desaster. Hier und generell in der Schule lernen sie, dass nur die Standardantwort in Ordnung ist. Das tötet nicht nur die Kreativität, sondern sorgt auch dafür, dass die Schüler weder Dinge hinterfragen noch änderungsbereit sind. Heute, wo es täglich neue Herausforderungen gibt, reicht das aber nicht mehr aus. Dazu kommt, dass chinesische Kinder einerseits ein sehr geringes Glücksgefühl und andererseits eine sehr hohe Selbstmordrate vor Studienbeginn aufweisen.

Szenenwechsel: Es geht nach Göttingen, wo der Hirnforscher Prof. Hüther zu Wort kommt. Die Geschichte, so berichtet er auf dem Friedhof einer kleinen Kapelle, besteht aus Krieg, Elend, Vertreibung und Angst. Und genau diese Angst wird von den Eltern auf die Kinder übertragen. Es ist die Angst, dass aus den Kindern nichts werden könnte. Abrichteschulen oder Kadettenanstalten waren gut für Kriege, das Maschinenzeitalter produzierte Menschen, die wie Maschinen funktionieren. Und in diesem Sinne sorgen die Schulen dafür, dass die Absolventen gut funktionieren. Hüther gibt aber zu bedenken, dass es nicht gut ist, Menschen abzurichten, damit sie nur das tun, was ihnen gesagt wird. Die Erziehungskunst liegt seiner Meinung nach darin, Kinder einzuladen, aber nicht zu erziehen und auch keinen Zwang zur Bildung auszuüben.

Verschiedene Studien haben untersucht, wie sehr das unangepasste Denken, also die Fähigkeit, verschiedene Antwortmöglichkeiten zu sehen, verbreitet ist. Da es sich dabei um eine Voraussetzung für Kreativität handelt, müssen die Ergebnisse aufrütteln. Fast alle 3- bis 5-jährigen besitzen diese Fähigkeit, die aber im Unterricht, in dem nur eine Antwort zulässig ist, fast vollständig verkümmert.

Erneuter Szenenwechsel, diesmal nach Frankreich zu Arno Stern, der seit vielen Jahrzehnten den Malort betreibt. Kinder ab 2 Jahren, aber auch Erwachsene können dort beim malen spielen, ein jeder auf seine Art. Und genau diese Verschiedenheit schließt das Konkurrenzdenken aus. Jeder wird von Stern ernst genommen, der anschließend immer wieder feststellt, dass sich die Menschen verändern.

Spielen setzt er mit genießen gleich. Dieses Erleben mit dem ganzen Wesen ist allerdings in der Schule nicht möglich. Es wäre aber wichtig, denn es beansprucht und entwickelt alle Fähigkeiten und man kommt zu sich selbst.

Stern ist der Auffassung, dass Tanzen, Musizieren und Malen die Hauptbeschäftigungen werden sollten, um erfüllte Menschen, die zukunftsfähig sind, zu erzeugen. Denn jeder ist genial, wenn man ihm gewährt, es zu sein.

In der Realität werden aber keine kräftigen Menschen mit Willen gewünscht. Im Gegenteil, sie sollen sich im System unterordnen. Die Welt ist in Ordnung, wenn alle genügend unzufrieden sind, dass sie sich in den Konsum flüchten.

Der ehemalige Personalvorstand der Deutschen Telekom, vertritt eine ähnliche Meinung wie Prof. Hüther. Das Unterrichtsministerium wird wie im alten Preußentum geführt. Schon im Wort unterrichten sagt der zweite Wortteil „richten“ aus, wozu es gut sein soll. Unentdeckte Begabungen sind aber oft anders und nicht bildungsbürgerlich normiert.

Das derzeitige Ausbildungssystem sorgte für dreierlei Menschen:

  1. solche, die manuelle Arbeiten durchführen können
  2. solche, die in einer Verwaltung einsetzbar sind und
  3. die Akademiker, die Ärzte, Juristen usw. werden.

Dahinter steht gleichzeitig eine Unterteilung in intelligente und nicht intelligente Menschen.

Wagenhofer ist mit der Kamera zwischendurch immer wieder in der McKinsey-Akademie in Kitzbühel, wo die zukünftigen CEOs im Wettbewerb „CEO of the Future“ ermittelt werden. Der ideale Top-Manager müsse leistungsorientiert sein, egal wie, lautet die dort vertretene Ansicht. Der Wettbewerb zeigt aber ganz klar, dass auch in der heutigen Ökonomie das Militärische, Kampf, Niederlagen und Sieg dominieren, was sich besonders in die Köpfe der jungen Männer eingegraben hat. Die Welt wird auf Marktlogiken zurechtgezimmert, an die sie ihre persönliche Karriere hängen.

In Wahrheit befinden sich aber manche Unternehmen in einem solchen Erschöpfungszustand, dass es dort keine Kreativität mehr gibt. Und die Welt wird immer noch ökonomischer und kurzfristiger. Viele Führungskräfte spüren das bereits am eigenen Leib, fühlen sich wie der Hamster im Rad, merken, dass der Lebensstil nicht mehr zu ihnen passt, und landen in der Depression.

Die Strukturen sind inzwischen so verhärtet, dass nur ein „wuchtiges Handeln“, also echte Erschütterungen helfen können. Die alten Bildungssysteme müssen zertrümmert werden und Raum für Neues geben. Denn das schneller – höher – weiter stößt in der Wirtschaft an die Grenzen, und genauso ist es in der Schule, so der Telekom-Personalchef.

Es sind allerdings noch wenig junge Menschen, die aus den Ketten ausbrechen. Noch viel zu oft wird Profitmaximierung für die eigenen Karriere verwendet. Was fehlt, ist das eigene Urteilsvermögen. Denn ein exzellenter formaler Abschluß bedeutet heute nicht mehr automatisch, dass man es mit einem gebildeten Menschen zu tun hat.

Die Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie ist allerdings die schlimmste Entwicklung der heutigen Zeit, in der Konkurrenz bereits im Kindergarten beginnt.

Prof. Hüther macht Hoffnung und verweist auf den ehemaligen Todesstreifen, der ja für die Ewigkeit gedacht war… Er plädiert für Zusammenarbeit, denn das Kind hat bereits vor der Geburt eine enge Verbindung mit der Mutter, und diese Sehnsucht nach Verbundenheit verschwindet auch nie. In der Realität werden die Kinder aber aufeinander gehetzt, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als die Programme von anderen zu lernen. Aus Einzellern wurden aber lediglich dadurch Vielzeller, weil sie zusammengehalten haben. Das Gehirn macht es uns vor. Dort arbeiten die verschiedenen Teile nicht gegeneinander, sondern zusammen. Wachstum wird durch intensivere Beziehungen möglich. Das Gehirn, so Prof. Hüther, hat es erfunden. In der Wirtschaft ist es allerdings noch nicht angekommen.

Angst oder Liebe? Liebe! Denn dann braucht man keine Angst vor der Verschiedenheit zu haben. Wertschätzung beendet die Angst und startet die Liebe. So bringt es Pablo Pineda auf den Punkt, der trotz Down-Syndrom sein Studium erfolgreich abgeschossen hat. Er hatte Glück, dass es in seinem Umfeld immer wieder Menschen gab, die im Mut gemacht und daran geglaubt haben, dass es geht.

Jedes Kind bringt andere Eigenschaften mit auf die Welt. Keine Begabung ist höherwertiger als eine andere. Bewertungen kommen nur aufgrund unserer Vorstellungen zustande, so Prof. Hüther. Dabei ist Begeisterung viel sinnvoller als ein Diplom.

So hat es André Stern erlebt, der nie eine Schule besucht hat. Lernen ist bei ihm nebenbei entstanden, Prüfungsangst hat er nie erlebt, stattdessen aber Vertrauen, nicht zuletzt durch seinen Lehrmeister, der ihn zum Gitarrenbauer ausgebildet hat. Stern hat alles gelernt, was ihn interessiert hat, vom Lesen bis zu Fremdsprachen und auch Regeln.

Und so ist auch immer Zeit, etwas Neues zu lernen, wenn man sich dafür interessiert. Spielen und Begeisterungsfähigkeit sind perfekt zum Lernen. Diese idealen Bedingungen, die Stern junior hatte, sind auch von der Hirnforschung bestätigt.

Der Film endet mit der Feststellung, dass es 3 Typen von Menschen gibt:

  1. unbewegliche Menschen
  2. bewegliche Menschen
  3. Menschen, die bewegen

Mögen es mehr werden, die beweglich sind und bewegen.