Abspringen aus einem kranken System, rät Benedikt Herles


Wieso tun die das? Was mache ich falsch? Sehen die nicht, dass sie sich selber schaden? Diese Fragen habe ich in den letzten Wochen und Monaten oft mit einem Freund diskutiert und ihm mit Mentaltraining zumindest geholfen, nicht ganz zu verzweifeln.

Worum geht es? Um seinen Job. Auch wenn er sich in seinem Bereich gut auskennt, engagiert und nie um neue Ideen verlegen ist, kann er irgendwie nicht landen. Selbst beste Arbeitsergebnisse enden „in der Tonne“, und in wegweisende Entscheidungen wird er gar nicht einbezogen. Voll im Geschäft sind stattdessen allerlei Berater. Was sie sagen, zählt, auch wenn es, so klagt mein Freund zuweilen, fachlich bestenfalls suboptimal ist.

Das Mentaltraining hat ihm geholfen, nicht in den negativen Gefühlen zu versinken. Wir haben Abgrenzungstechniken geübt, mit denen er sich auf sein eigene Leistung konzentriert und nicht vergeblich auf Lob von außen wartet. Wir haben seine Wertehierarchie ermittelt und ihm damit ein Wissen geschaffen, mit dem er sich Konflikte leichter erklären kann.

Die Frage, warum sein berufliches Umfeld so agiert, wie es agiert, konnte ich ihm aber leider auch nicht schlüssig beantworten. Der Erklärungsversuch mit dem Flow-Modell hat ihm gut gefallen. Einen großen Schritt weiter hat ihn dann aber ein kleines Buch gebracht, aus das ich im Zusammenhang mit dem Alphabet-Film gestoßen bin. Benedikt Herles liefert in „Die kaputte Elite“ einen „Schadensbericht aus unseren Chefetagen“ und erklärt damit genau das, was mein Freund in der Praxis erlebt.

kaputte-eliteEr kann sich zunächst mal trösten, dass er mit seiner Unzufriedenheit nicht alleine ist. Die gesamte Ökonomie steckt in einer schweren Glaubwürdigkeits- und Stabilitätskrise, die Angst, Rezession und öffentlichen Schulden hervorgerufen hat. Und was passiert? Nichts! Denn die Krise hat keine Köpfe rollen lassen und Querdenker an die Schaltstellen der Unternehmensmacht gebracht. Nach wie vor regieren Copy-Paste und Best-Practice, um bloß kein Risiko einzugehen.

Liegt es am Alter der Führungsriegen? Nein, Benedikt Herles sucht und findet das Übel viel früher – nämlich schon dort, wo die zukünftige Wirtschaftselite ausgebildet wird. Und da stellt Herles selbst den Elitehochschulen ein schlechtes Zeugnis aus. Dort gilt immer noch der Homo oeconomicus, den nur sein eigener Nutzen interessiert, als Maß aller Dinge. Psychologie, Soziologie, Philosophie oder Politikwissenschaften sucht man in den Lehrplänen vergeblich, und so wird mit einer „moralisch verrotteten Theorie“ Führungsnachwuchs erzeugt, der so von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht wird. Ob „unreflektierte Karrieristen“, „fantasielose, ängstliche Technokraten“ oder „hechelnde Gewinnmaximierer“, Herles spart nicht mit Kritik an den Hochschulabgängern. Er gibt aber auch zu bedenken, dass manche Personalabteilungen genau solche angepassten Mitarbeiter wünschen, die wenig hinterfragen und reflektieren, sondern immer gleich denken.

Benedikt Herles war wie viele andere Studienabgänger der Überzeugung, dass der Berufseinstieg als Berater das perfekte Karrieresprungbrett sei. Einen dieser beliebten Jobs zu bekommen, stellte durchaus eine Herausforderung dar. Alles was danach folgte, war für ihn aber mehr als ernüchternd. Er erlebte seine Arbeit als fremdbestimmt und entfremdet und stellte fest, dass er sein Studium für die Aufgaben gar nicht gebraucht hätte.
Hoch lag die Latte einzig hinsichtlich der Arbeitszeit von mehr als 16 Stunden pro Tag, Wochenendarbeit ebenfalls eingeschlossen. Das Ergebnis waren allerdings in Wahrheit nur inhaltsleeres Kauderwelsch und aufgeblasene Phrasen rund um triviale Aussagen und bestenfalls Zahlen und Analysen. Visionen, neue Wege oder gar Gefühle sind auch hier Fehlanzeige.

Merkt das denn niemand und protestiert? Nein, aus den Unternehmen, die die Berater beauftragen, sicher nicht. Denn auch dort herrschen vorwiegend die risikoscheuen, visionslosen Führungskräfte, die sich durch den Einsatz der Berater vor eigenen Fehlern schützen und ihnen im Zweifelsfall auch die Überbringung schlechter Nachrichten überlassen. Und dass diese Führungskräfte Querdenkern keine Karriere ermöglichen, versteht sich (leider) von selbst.

Natürlich bietet die Wirtschaft auch positive Beispiele. Wer schaut nicht bewundernd auf Apple oder ist gar treuer Fan? Auch der Mittelstand, der noch Werte und Menschlichkeit lebt und trotzdem profitabel ist, wird von Herles lobend hervorgehoben. Aber es ist noch immer eine Minderheit.

Und was heißt das nun für meinen Freund? Er braucht vor einer veränderten Berufswelt keine Angst zu haben, denn er ist für die Zukunft, die sich Herles wünscht, bestens gerüstet. Er mag selbstbestimmtes Arbeiten und sinnstiftende Aufgaben. Er läuft zu Hochform auf, wenn vernetztes Denken gefordert ist und entwickelt unglaublich kreative Ideen. Zugegeben, er hat auch BWL studiert, aber er findet auch Psychologie spannend. Nun muss er nur noch den Absprung schaffen. Denn das Buch endet wie folgt:

Abspringen lohnt sich. Für uns alle.

Wer springt mit?