Prof. Spitzer über Stress, Schmerz und Egoismus

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Hier nun der zweite Teil des Vortrags von Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer beim Symposium vom Turm der Sinne im September 14 in Fürth. Wer den ersten Teil noch nicht gelesen hat, findet ihn hier.

Stress
Was verursacht Stress? Spitzer erklärte dies an einem Beispiel mit zwei Versuchtieren, die sich in getrennten Käfigen befinden. Über den Boden bekommen sie in loser Folge Elektroschocks. Ein Tier wird vorher durch das Aufleuchten eienr Lampe gewarnt und kann den Strom durch rechtzeitiges Drücken eines Schalters verhinden. Stress hat aber nicht etwa dieses Tier, dass schnell reagieren muss und manchmal doch nicht schnell genug ist. Stress hat vielmehr das andere Tier, das dem Geschehen machtlos ausgeliefert ist und keine Kontrolle darüber hat. Stress ist also der subjektive Eindruck, die Situation nicht im Griff zu haben.
Im akuten Fall ist die Stressreaktion zwar lebensrettend. Dauerstress hingegen ist aber tödlich.

Auf Menschen übertragen konnte Spitzer aus Stressreports berichten, dass das Führungsverhalten und die soziale Unterstützung am Arbeitsplatz die Gesundheit und das psychische Befinden massiv beeinflussen können. Deutsche Führungskräfte erhalten allerdings im EU-weiten Vergleich ein schlechtes Zeugnis für ihre Unterstützung und die Einbeziehung von Mitarbeitern bei der Festlegung von Arbeitszielen. Verschiedene Beschwerden bei ihren Mitarbeitern sind die Folge.

Auch Umstrukturierungen in Firmen steigern die Krankheitsraten oft erheblich. Manager strukturieren aber gerne um – “weil sie sonst nichts können” – so Spitzers treffender Nebensatz. Das Ganze wird “Change Prozess” genannt, so dass der Mitarbeiter nicht weiß nicht, was auf ihn zukommt und ein Gefälle entsteht. Der gesamte Prozess wird also falsch angegangen.
Im Grunde möchten die Mitarbeiter lernen und es besser machen. Das erklärt die Hirnforschung dadurch, dass das Glückszentrum im Gehirn mit dem Lernzentrum deckungsgleich ist. Das Gehirn ist also für das Lernen gemacht. Wenn jedoch die Mitarbeiter krank werden, machen diejenigen, die für das Lernen zuständig sind, etwas falsch.

In den USA wurde bereits eine sinkende Lebenserwartung festgestellt, weil das Leben immer weniger menschengemäß ist. Dauernd auf irgendetwas reagieren zu müssen, macht Stress. Wahrer Luxus ist hingegen, offline zu gehen.

Schmerz
Unsere Spiegelneuronen sorgen dafür, dass wir Schmerz empfinden, wenn wir eine andere Person in einer schmerzlichen Situation erleben. Spitzer prüfte dies beim Publikum mit dem Bild eines Schuhs, durch den von unten nach oben ein Nagel steckte. Schaudernde Gänsehaut, die Spitzer aber schnell auflösen konnte. Denn in diesem Fall gab es keinen Grund für Schmerzen, da der Nagel nur den Schuh beschädigt hatte und harmlos zwischen zwei Zehen nach oben ging….

Im Gehirn werden bei körperlichen Schmerzen zwei Bereiche aktiv. Ein Bereich zeigt den Ort des Schmerzes an, der andere die Intensität. Und die gleichen Schmerzzentren sind auch aktiv, wenn jemand ausgeschlossen wird. Einsamkeit oder ignoriert zu werden verursacht also tatsächlich Schmerzen!
Schmerz ist allerdings überlebensnotwendig. Egal ob die körperliche oder die soziale Integrität in Gefahr ist, signalisiert der Schmerz “Tu etwas, du bist gefährdet!” Schmerz leitet also idealerweise eine Veränderung ein.

Soziales Netzwerk
Ein starkes soziales Netzwerk kann das Schmerzempfinden reduzieren und das Schmerzzentrum deaktivieren. Dazu reicht es schon, die Hand des Partners zu halten oder ein Bild der Familie zu betrachten – aktive, aber einfache Schmerztherapie!

Schmerzmittel gegen Einsamkeit
Aus diesen Erkenntnissen leitete Spitzer die Frage ab, ob Schmerzmittel dann auch gegen Einsamkeit helfen können. Dem ist in der Tat so, was sowohl Hinweise für eine erfolgreiche Behandlung von Einsamkeit als auch eine Erklärung für Schmerzmittel-Missbrauch liefert. Antidepressiva helfen dabei, durch Stress zerstörte Nervenzellen nachwachsen zu lassen. Das braucht allerdings etwas Zeit.

Homo Oeconomicus
Auch Prof. Dr. Dr. Spitzer hat sich auf die Suche nach dem Homo Oeconomicus gemacht, dieser Person, die ausschließlich rational handelt. Aber auch er hat sie nirgends in der Welt gefunden. Denn wenn es ihn gäbe, müsste es im Ultimatum-Spiel, wo eine Person beispielsweise 10 Euro bekommt und diese behalten darf, wenn eine fremde Person ihren (einzigen) Vorschlag zum Teilen des Betrags annimmt, eine Aufteilung von 9,99 und 0,01 Euro zustande kommen. Tatsächlich entscheiden sich aber 30 – 40% der Teilnehmer für eine 50:50-Aufteilung des Betrags.
Verteilungen im Verhältnis 80:20 oder 90:10 führen zu starkem Nachdenken. Der rationale Verstand will das Geld, denn 1 oder 2 Euro sind schließlich besser als gar nichts. Auf der anderen Seite aber wird das Schmerzzentrum aktiv, und die Insel sorgt für Bauchweh, weil man sich unfair behandelt fühlt.

Gesellschaft
Was bedeutet das für die Gesellschaft und die Wirtschaft? Ganz einfach: Unfaire Behandlung tut weh! Eine Gemeinschaft von Egoisten funktioniert folglich nicht. Zwar geben 70% der Menschen einen Vertrauensvorschuss und nehmen diesen erst bei Betrug im tit-for-tat-Verfahren zurück. Aber die aktuelle Gesellschaftsordnung begünstigt Egoisten. Genau an diesem Punkt muss gearbeitet werden. Spitzer hofft, dass die Neurowissenschaft hilft, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen als sie heute herrschen. Denn der Wild West-Kapitalismus funktioniert nicht, weil es den Menschen damit einfach nicht gut geht.
Die Unterscheidung zwischen In- und Out-Group ist tief im Gehirn verwurzelt, muss sich aber dringend ändern. Denn in einer globalisierten Welt kann es eigentlich keine Out-Group mehr geben. Diese Erkenntnis muss aber erst klar werden, bevor die Menschen damit umgehen lernen und Lösungen finden können.

Die Gesellschaft muss sich auch davon verabschieden, dass das Wachstum laufend weitergehen kann. Ein permanentes Wachstum gibt es nämlich nur bei Krebs – mit den bekannten Folgen. Nachhaltigkeit und permanentes Wachstum schließen sich jedenfalls aus.

Mit diesen Schluss-Statements endete der Vortrag und die Diskussionsrunde, die durch den Ausfall des nachfolgenden Vortrags sogar verlängert werden konnte, aber durchaus auch noch viel länger hätte sein dürfen.